Richie Hawtin: Der Techno-Pionier über DJ-Kultur und CO2-Sünden (2024)

Richie Hawtin: Der Techno-Pionier über DJ-Kultur und CO2-Sünden (1)

Richie Hawtin ist ein Techno-Pionier und der Pate aller digitalen DJ. Im Interview spricht er über das Herzflattern vor dem ersten Zürcher Mega-Rave, CO2-Sünden und eine App, mit der man seiner DJ-Performance näher kommt.

Bjørn Schaeffner

Drucken

Richie Hawtin, sind Sie nostalgisch geworden?

Wie meinen Sie das?

Sie haben einen Grossteil Ihres Techno-Frühwerks neu aufgelegt. Dabei galten Sie als Zukunftsmusiker par excellence.

Ich erlaube mir höchstens einen Moment lang, nostalgisch zu sein, um dann wieder vorwärtszuschauen (lacht). In den Neunzigern haben wir uns ausgemalt, wie die Zukunft aussieht, wie sie klingt. Wir hatten keine Ahnung, ob es Techno im nächsten Jahr noch geben würde. Würde ich mit dreissig noch im Klub stehen? Würde Techno nach China kommen? Heute sind diese Fragen beantwortet. Und dieser Futurismus von früher ist längst in der Gegenwart angekommen.

Dafür juckt es jetzt eine junge Generation in den Fingern?

Mich begeistert, mit was für einem Feuer die Kids ans Werk gehen. Die sagen sich dann: «Substance Abuse»? [Ein Richie-Hawtin-Klassiker, Anm. d.Red.] Das kann ich besser! Wir waren einmal genau so, als wir Derrick May [einem Detroit-Techno-Pionier, Anm. d.Red.] den Fehdehandschuh hingeworfen haben.

Heute kommt der Erfolg über Nacht. Und via Instagram.

In manchen Fällen geht es extrem schnell, zu schnell. Wenn man nonstop um die Welt fliegt und immer nur kurze DJ-Sets spielt, dann kann man die Bandbreite und Tiefe dieser Kunstform nicht erfahren. Aber ich kann nur von mir reden und meiner Zeit: Ich habe mich als Künstler einfach anders entwickelt.

Aber auch Sie lächeln mit Paris Hilton in die Kamera und legen mit einem Skrillex auf. Stört es Sie nicht, dass die ursprüngliche Vision des Techno verramscht wurde?

Mir ist es ziemlich egal, ob jemand Carl Craig mag oder David Guetta. Als EDM [Electronic Dance-Music, Anm. d.Red.] explodierte, war ich begeistert, weil unsere Musik plötzlich ganz viele neue Menschen erreichte. Manche nehmen es mir übel, dass ich als Techno-Künstler in den Mainstream vorgedrungen bin. Aber musikalisch bin ich mir immer treu geblieben.

Vor ein paar Jahren machten Sie auf Facebook einen Witz über einen DJ, der einen Plattenkoffer durch das verschneite Berlin schob.

Ich erinnere mich gut.

Vinyl-Fans waren entrüstet.

Es ist leicht, in den sozialen Netzwerken missverstanden zu werden. Ich habe gar nichts gegen Vinyl, im Gegenteil: Ich liebe Vinyl! Ich habe einfach eine sehr spezifische Vorstellung davon, welche Technologie ich nutze. Für mich geben Platten keinen Sinn mehr, ich lege mit dem Computer auf, digital.

Sie werden immer wieder angefeindet. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Das war schon immer so. Es gibt im Underground halt Menschen, die sich über andere Menschen lustig machen, die erfolgreicher sind als sie selbst. Mit Social Media hat sich alles noch verschärft. Die gehässigen Kommentare klingen immer stärker nach als die positiven. Da musst du dir eine dicke Haut zulegen.

Jetzt scheint Ihre Popularitätskurve aber wieder nach oben zu zeigen.

Vielleicht. Eines habe ich aus meiner Karriere gelernt: Solange du noch im Ozean des Techno schwimmst, kommen irgendwann Wellen zurück.

Sie bringen die App «Close Combined» auf den Markt. Warum sollte ich mir diese auf mein Smartphone laden?

Ich wurde aus mehreren Perspektiven gefilmt, wie ich in London, in Paris und in Tokio meine Show «Close» spiele. Das haben wir in «Close Combined» verschmolzen. Auf der App kann man die Kameraposition und den Sound auswählen. Man kann mein Set dekonstruieren oder sich in die Technik vertiefen. Soll ich jetzt eine Acid-Line spielen? Oder soll ich schauen, was Rich an seinen Maschinen anstellt?

Eine App wird das Erlebnis im Klub aber nie ersetzen – die Lichter, die Tänzer, den Bass...

Aber sie kann es ergänzen! Ich spiele meine Show «Close» in grossen Hallen vor Tausenden von Menschen, aber die App ermöglicht eine Art Intimität, weil man mir beim Mixen direkt über die Schultern schauen kann. In Zukunft möchten wir das alles auch live möglich machen.

Warum ist Ihnen diese Transparenz wichtig?

Das öffentliche Bild eines DJ ist immer noch viel zu eindimensional. Das ist erstaunlich, denn die DJ-Kultur ist so populär wie nie zuvor. Dieses Bild wird noch verstärkt dadurch, dass mit den CDJ [den marktüblichen CD-Playern für DJ, Anm. d.Red.] das Auflegen ein Kinderspiel geworden ist. DJing ist eine Kunstform, und ich möchte zeigen...

...dass die Schönheit im Mix liegt?

Ja, genau! Das Konzept ist altbekannt: Du nimmst den Track eines Künstlers und mischst ihn mit dem Track eines anderen Künstlers. Daraus entsteht etwas Neues, manchmal etwas Grossartiges. Ich gehe weiter. Ich baue noch mehr Maschinen ein, mit denen ich mixe. Noch mehr Tracks. So möchte ich zeigen, wie weit DJing gehen, an welche Grenzen man als Performer vorstossen kann.

Richie Hawtin: Der Techno-Pionier über DJ-Kultur und CO2-Sünden (2)

Richie Hawtin

bjø. · Der Techno-DJ Richie Hawtin, 1970in Banbury, England, geboren,liebt die Frageform. Das merkt man rasch im Gespräch. Küchenpsychologisch lässt sich das so erklären: Richie Hawtin geht den Dingen auf den Grund. Es gibt keinen zweiten DJ, der sich so auf die Erkundung neuer Technologien spezialisiert hat wie er. Dafür feilt er nicht nur ständig an der eigenen Musik und Performance, er bringt sich auch in die Entwicklung von DJ-Software oder eigener Mixer ein. Der kanadische Künstler mit englischen Wurzeln hat dem Detroit-Techno der neunziger Jahre seinen Stempel genauso aufgedrückt wie der Minimal-Welle der nuller Jahre. Im April erschien auf seinem Label Plus 8 sein Frühwerk unter dem Pseudonym F.U.S.E. – inklusive des nie veröffentlichten Mini-Albums «Computer Space». Das ist karge, klösterliche Techno-Musik. Und plötzlich fiepst es, poltert es los. Alles läuft wie am Schnürchen.

Man kennt Sie auch als einen DJ, der live vertweetet, welchen Track er gerade spielt. Wird Ihnen die digitale Welt nie zur Last?

Mit der digitalen Welt meinen Sie einfach unsere Realität an sich? Ich weiss nicht, ob es mir früher mehr Spass gemacht hat als heute, aber eines ist sicher: Es war einfacher. Jetzt, wo wir uns in der Zukunft befinden, die wir uns in den neunziger Jahren vorgestellt haben, in dieser hypervernetzten Welt, muss ich regelmässig eine Auszeit nehmen.

Fahren Sie zur Erholung nach Goa, wie Ihr Kollege Sven Väth?

Nein, in die Philippinen. Ich klinke mich einmal im Jahr total aus und fahre für zwei Monate an einen Ort, wo mich niemand kennt, wo kein Techno läuft, wo ich mein Handy abstellen kann und mich nicht darum kümmern muss, was im Rest der Welt passiert. Letzte Woche war ich mit meiner Frau eine paar Tage in Japan, in den Bergen. Für mein Sake-Projekt. Auch das ist etwas, das es mir erlaubt, mein Hirn abzuschalten.

Wie sind Sie auf Sake gekommen?

Ich war in den letzten Jahrzehnten immer wieder in Japan und habe mich in den Geschmack des Sake verliebt: Er ist wunderbar fruchtig und geschmeidig. Ich habe mich dann zum Sake-Sommelier ausgebildet. Und vor ein paar Jahren meine eigene Sake-Marke lanciert, «Enter Sake».

Sehen Sie Ähnlichkeiten zum Techno?

Hinter der Sake-Kultur steckt eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft, die mich an die Zeit erinnert, als wir selbst mit Techno angefangen haben, als John [Acquaviva, Richie Hawtins Labelpartner, Anm. d.Red.] und ich Plus8 gestartet haben. Auch beim Sake geht es um ein Qualitätsprodukt, das mithilfe von Technologie entsteht. Das fasziniert mich. Für mich ist eines der schönsten Privilegien an meiner Arbeit, viel reisen zu dürfen, Menschen zu treffen, die Ähnliches im Sinn haben, auch wenn ihr Hintergrund ein ganz anderer ist.

Wenn wir beim Reisen sind: Sie haben 2007 eine CO2-Initiative lanciert, bei der DJ fürs Fliegen eine Klimaschutzspende zahlen können. Was ist daraus geworden?

Die Environmental Awareness Initiative gibt es immer noch. Es ist schon merkwürdig. Wir waren früh dran mit dem Projekt. Nur haben wir irgendwann aufgehört, es intensiv zu promoten. Ich muss gestehen, das erfüllt mich nicht mit Stolz. Die Leute schien es allerdings kaum zu interessieren.

Vielfliegende DJ reden ungern über ihren ökologischen Fussabdruck.

Zum Glück rückt jetzt eine junge Generation nach, der die Zukunft des Planeten wichtig ist. Es ist allerhöchste Zeit, dass wir über das Thema reden.

Ein Ansatz wäre, die lokalen Szenen zu fördern, statt ständig DJ aus dem Ausland einzufliegen.

Sie haben recht, dieser Aspekt im Klub-Business ist ungesund. Kommt hinzu, dass damit ein Verlust von lokaler Identität einhergeht. Aber es ist halt auch so: Der Mensch will Aussergewöhnliches erleben. Und nicht immer nur zum selben DJ im lokalen Klub tanzen.

Wie erleben Sie die lokale Szene in Zürich?

In den nuller Jahren lag eine extrem inspirierte Energie in der Luft, die aber in letzter Zeit anscheinend verpufft ist. So nehme ich das von aussen wahr. Vielleicht ist Berlin mit daran schuld. Als Hauptstadt der Klubkultur hat Berlin viele lokale Szenen zerstört, weil viele Künstler dorthin gezogen sind.

1992, in dem Jahr, als die Street Parade zum ersten Mal stattfand, spielten Sie zum ersten Mal in Zürich. Woran erinnern Sie sich?

Ich spielte an der «Energy»-Party. Der Veranstalter Arnold Meyer, dieser nette, etwas schrullige Typ, hat mich am Flughafen abgeholt. Das war die Zeit, als ich erstmals in Europa war und viele neue Freundschaften schloss. Wir fühlten uns als Verschworene. Man verstand sich über die Musik. Als ich erstmals an der «Energy» auflegte, diesem Mega-Rave, war das unglaublich. Aber ich spürte auch einen enormen Druck: Bin ich ready, fragte ich mich, kann ich auch wirklich abliefern?

Und konnten Sie das?

Es ging gut, aber Sie müssen wissen, ich spielte ja vorher nur auf kleinen Partys in Detroit und Windsor! Und plötzlich stand ich dann am Mayday in Berlin oder an der «Energy» in Zürich vor 10000 Menschen. Ich war fassungslos: Warum stand ich hier auf dem Podest? Was musste ich tun? Was wollten die alle von mir?

Auflegen in kleinen Klubs – ist das etwas, das Sie vermissen?

Ich brauche das immer noch. Und wie! Für mein geistiges Wohlbefinden, für meine Kreativität. Die Dynamik in einem kleinen Klub ist komplett anders. Du spielst andere Platten, in einem anderen Tempo. Meist habe ich um den Jahreswechsel herum kleinere Gigs für lediglich 200 Leute.

Es dürfte aber schwierig sein, diese intimen Partys unter dem Deckel zu behalten?

Ideal ist es, wenn eine solche Party nur über Mundpropaganda bekannt wird. So haben wir es neulich in Rostock gemacht. Aber wenn das einmal im Internet landet, dann fliegen plötzlich Fans aus Korea ein.

Fassen Sie sich dann an den Kopf?

Sosehr mich diese Szene begeistert und antreibt, es gibt definitiv Momente, in denen ich sage: f*ck! Es gibt auch Momente, in denen ich am liebsten verschwinden möchte. Es ist alles riesig geworden, crazy, richtig crazy. Aber rückblickend war diese Reise ins Unbekannte unglaublich. Ich muss mir das immer wieder mal vergegenwärtigen. Wow, dieses Ding läuft immer noch.

Der DJ, der die House-Musik nach Zürich brachte Im Klub Flamingo in Zürich legte Roger Giger Platten auf. Dabei prägte er nicht nur den Sound seiner Stadt und seiner Generation. Die Arbeit am Plattenteller brachte den findigen DJ auch auf neue musikalische Ideen.

BjørnSchaeffner

Japan ist bekannt für Mangas, Sushi, J-Pop – und nun auch für seine Vintage-Sounds Für die Pop-Musik ist Japan eine Insel der Sehnsucht. Hier sind überraschende Musikproduktionen aus den achtziger Jahren und andere Vintage-Sounds zu finden. Die Japan-Welle inspiriert auch Musiker aus dem Westen.

Bjørn Schaeffner

Richie Hawtin: Der Techno-Pionier über DJ-Kultur und CO2-Sünden (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Annamae Dooley

Last Updated:

Views: 5333

Rating: 4.4 / 5 (45 voted)

Reviews: 84% of readers found this page helpful

Author information

Name: Annamae Dooley

Birthday: 2001-07-26

Address: 9687 Tambra Meadow, Bradleyhaven, TN 53219

Phone: +9316045904039

Job: Future Coordinator

Hobby: Archery, Couponing, Poi, Kite flying, Knitting, Rappelling, Baseball

Introduction: My name is Annamae Dooley, I am a witty, quaint, lovely, clever, rich, sparkling, powerful person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.