So richtig die Meinung sagen: Speakers' Corner in London (2024)

An der Speakers' Corner im Londoner Hyde Park diskutieren wöchentlich Christen, Muslime, Rechte, Linke und Verrückte - und das seit über 150 Jahren. Ein Ort mit einer sehr dunklen Vergangenheit.

Nach langer Zeit hat es in London mal wieder etwas geschneit an diesem Wintertag. Am nordöstlichen Eingang zum Hyde Park, am Marmorbogen "Marble Arch", haben die Stiefel Tausender Touristen das Weiß in eine graue Matsche verwandelt. Eilig stapfen sie Richtung U-Bahn oder irgendwo ins Trockene. Und mitten auf diesem kleinen, unscheinbaren Platz, den die meisten Londoner als Speakers' Corner kennen, steht ein Mann auf einer Leiter und schreit: "Akzeptiert Jesus als euren Heiland, und Gott wird euch eure Sünden vergeben."

Der Mann, der da mit der Bibel in der Hand durch die Gegend ruft, ist Dave, 53 Jahre alt und Vollzeit-Evangelist. So beschreibt er sich zumindest selbst. Regelmäßig steht er hier auf seiner Trittleiter und schreit der Welt seine Ansichten entgegen. Doch er ist nicht alleine. Um ihn herum diskutieren, lamentieren und brüllen Marxisten, Muslime und wiedergeborene Christen. Hier, an der Speakers' Corner (Ecke der Redner), treffen sie sich jeden Sonntag, um der Welt ihre Meinung zu sagen. Ob diese jemand hören will oder nicht, ist dabei zweitrangig.

Bei gutem Wetter lockt die Speakers' Corner wöchentlich mehrere Tausend Redner, Zuhörer, Zwischenrufer und Touristen an. Karl Marx sprach hier einst genauso wie Lenin und der Schriftsteller George Orwell. Reden über die Königin und andere Royals sind unerwünscht.

Die Geschichte der Speakers' Corner geht Hunderte Jahre zurück, bis ins dunkle Zeitalter der öffentlichen Hinrichtungen. "Ab dem 12. Jahrhundert befand sich dort, wo heute die Speakers' Corner ist, eine der bekanntesten Hinrichtungsstellen Londons - Tyburn Hanging Tree. Hier versammelten sich die Londoner am Wochenende zu Tausenden, um zuzusehen, wie verurteilte Straftäter gehängt wurden", erklärt John Roberts. Der Sohn eines langjährigen Redners der Speakers' Corner forscht an der Brunel University im Fachbereich politische Soziologie und hat seine Dissertation über die Speakers' Corner geschrieben.

"Vor der Vollstreckung der Todesurteile hatten die Verurteilten das Recht, sich mit einer öffentlichen Rede an das Volk zu wenden. Ihre Reden sorgten dann oft für Ausschreitungen und gewaltsame Proteste unter den Zuschauern, häufig diskutierten sie noch tagelang über das Gesagte", erklärt Roberts. Nach der letzten bekannten Hinrichtung im Jahre 1783 blieb Tyburn Hanging Tree den Londonern als ein Ort im Gedächtnis, wo angeregt über Politik diskutiert wurde.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts demonstrierten hier zunehmend sozialistische Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften für ihre Rechte. Das missfiel der Bourgeoisie, die in den Parks mit ihren Hunden und Pferden spazieren ging. Schließlich gab die Regierung 1872 der Bevölkerung eine kleine Ecke im Hyde Park, wo sie ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen konnte.

"Die Speakers' Corner ist ein Spiegel der britischen Gesellschaft", sagt Heiko Khoo. Der selbsterklärte Marxist ist seit 1968 fester Bestandteil der Speakers' Corner und spricht seitdem über Politik und Geschichte. "Hier wird immer über das geredet, was die Menschen beschäftigt." Das seien früher die Kriege in Afghanistan, dem Irak, Kosovo, Libyen gewesen, heute seien es die Konflikte in Syrien und der Islamismus. "Es gibt keinen vergleichbaren Ort auf der Welt, an dem eine kontinuierliche Anzahl von Menschen über Jahrzehnte die unterschiedlichsten Themen diskutiert", sagt Khoo.

"Sie schreien sich nur an"

Während besonders in den 60er Jahren vornehmlich über Politik diskutiert wurde, zanken sich die Anwesenden an diesem nasskalten Tag vornehmlich über Religion: Während ein afroamerikanischer Mann mit einem Plakat in der Hand erklärt, dass der bevorstehende Untergang der USA schon in der Bibel beschrieben wurde, streiten neben ihm zwei Muslime über die richtige Auslegung einer Koransure.

"Ich verstehe wirklich nicht, wie man freiwillig stundenlang draußen rumstehen und sich die Meinung von anderen Leuten anhören kann", sagt Ago Riccobono. Er arbeitet im Speakers' Corner Café direkt nebenan. Viele der Redner sind seine Stammkunden und wärmen sich vor dem Reden mit Kaffee und Tee. "Die schreien sich nur an, und einig werden die sich doch eh nie", sagt der 30-Jährige.

Doch dieses hart erkämpfte Recht, anderen Menschen seine Meinung sagen zu können, aber auch ihre Meinung aushalten zu müssen, ist es, was die Speakers' Corner ausmacht. Heiko Khoo erinnert sich: "Vor ein paar Jahren sind hier ein paar Rechtsradikale von der English Defence League aufgetreten. Die Zuschauer haben ihnen aber Paroli geboten und mit ihnen argumentiert, bis sie nichts mehr sagen konnten. Seitdem sind sie nicht mehr wiedergekommen."

Es scheint wie ein kleines Wunder, dass es hier so selten zu Schlägereien kommt. "Das ist auch so besonders an Speakers' Corner. Zu wirklich ernsthaften Auseinandersetzungen kommt es vielleicht ein oder zweimal im Jahr", sagt Khoo. "Das ist schon extrem wenig, wenn man bedenkt, dass hier die kontroversesten Themen der Menschheit diskutiert werden."

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