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Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?
Plastik musste her, und zwar schnell! Und weil das sonst keiner so sah, füllte Elmar Mock im Frühjahr 1980 flugs einen Antrag auf Bestellung einer Kunststoff-Spritzgussmaschine aus. Für 500.000 Schweizer Franken. Ohne Rücksprache mit seinem Chef. Die Zeit schien denkbar ungünstig für Mocks Idee: Der 29-jährige Ingenieur des Schweizer Uhrenherstellers ETA wollte Unsummen für eine neue Maschine ausgeben, obwohl die Firma kurz vor dem Konkurs stand und bereits Tausende Mitarbeiter entlassen hatte.
"Eine absolut kindliche Schnapsidee", erinnert er sich, "ich war jung, völlig naiv, ein wenig anarchisch, habe einfach nur geträumt." Geträumt von einer Generation neuer Uhren aus Plastik, preisgünstig und hochwertig zugleich. Geträumt von einer Chance für die darbende Schweizer Uhrenindustrie, die gegen die Billig-Konkurrenz aus Asien nicht ankam und in den letzten Jahren ihre Weltmarktführung und 60.000 Arbeitsplätze verloren hatte.
Nach seinem Alleingang musste auch Mock um seinen Job fürchten. Sein Chef Ernst Thomke ließ ihn vorladen. Es blieben ihm nur zwei Stunden, sich gegen die drohende Entlassung zu wappnen. Sofort lief er zu seinem Ingenieurskollegen Jacques Müller, mit dem er oft über die Zukunft der Uhren philosophiert hatte. Hastig kritzelten die beiden eine Skizze einer günstig herstellbaren Kunststoff-Uhr auf Millimeterpapier und gingen damit ins Gespräch mit ihrem Chef.
"Erst hat mich Thomke heftig zusammengestaucht", erinnert sich Mock, "doch am Ende fragte er: 'Darf ich die Zeichnung behalten?' Ohne es ahnen zu können, hatte ich bei ihm offene Türen eingerannt." Mock und Müller bekamen sogar einen Sonderauftrag mit allen Freiheiten, die sie sich wünschten: Sie sollten eine qualitativ hochwertige Uhr entwerfen, deren Herstellung nicht mehr als zehn Schweizer Franken kosten durfte.
Popkunst am Handgelenk
Eine einfache Skizze rettete einem jungen Ingenieur also den Job - und bewahrte womöglich gleich die ganze Schweizer Uhrenindustrie vor dem Kollaps. Denn Mocks und Müllers Zeichnung wurde zum Ur-Modell der Swatch, die drei Jahre später, am 1. März 1983, der Öffentlichkeit präsentiert wurde - und sich bald millionenfach in aller Welt verkaufen sollte.
Vor 30 Jahren begann damit eine der erfolgreichsten Markeneinführungen des 20. Jahrhunderts. Befeuert von einer geschickten und millionenschweren Marketingkampagne übertrafen die Verkaufszahlen sogar die kühnsten Prognosen ihrer Macher. Gekonnt war es den PR-Experten gelungen, die Plastikuhren für 65 Mark als erschwingliche Popkunst am Handgelenk zu verkaufen.
Die Erfolgsformel: Erstmals wurden Uhren nicht als schnöde Zeitmesser, sondern als sympathisch-schräge, freche Modeaccessoires beworben. Analog zur Modewelt gab es jährlich mehrere Kollektionen mit vielfach wechselnden Modellen und Farben. Konsequent wurde die Swatch daher anfangs nur in Schmuckläden neben Ohrringen und Halsketten angeboten - "Fashion that ticks", wie ein früher Werbeslogan hieß.
Neu entdeckter Hedonismus
Für ausgefallene Sondermodelle, entworfen von Künstlern wie Keith Haring, Kiki Picasso oder Vivienne Westwood, standen die Menschen stundenlang Schlange, wie sie es erst Jahrzehnte später wieder für die neuesten Modelle des iPhone tun sollten. Swatch wurde das, was Apple heute ist: eine emotional aufgeladene Kultmarke, die perfekt ein Lebensgefühl bediente. Nach den politischen sechziger und siebziger Jahren wuchs nun der Wunsch nach Freizeit, Spaß und Konsum. MTV und Swatch wurden zu Inbegriffen dieses neu entdeckten Hedonismus - und kooperierten geschickt bei der Präsentation von Sport- und Musikevents.
Im Uhrendesign schien plötzlich alles möglich, denn alles wurde fast blind gekauft: XXL-Gehäuse in Signalfarben wie knallrot, zitronengelb oder pink. Plastikarmbänder in Leopardenfellmuster. Uhren, die so aussahen wie eine Salatgurke oder ein britisches Frühstück - mit dem Spiegelei als Ziffernblatt und dem kross gebratenem Speckstreifen als Armband.
Es wurden Serienmodelle kreiert, die Weckmelodien abspielten (MusiCall) oder deren Zifferblätter nachts leuchteten (Loomi). Was heute bestenfalls noch niedlich wirkt, war damals ein echter Renner. Swatch mit integriertem Ski-Pass schienen urplötzlich selbst Skianfängern unentbehrlich, und mit der Swatch Scuba konnte man angeblich bis zu 200 Meter tief tauchen. Obwohl das natürlich kein Teenager auf dem Schulhof brauchen konnte, waren gerade diese Modelle äußerst angesagt.
Ein Plastikspielzeug rettet eine ganze Branche
Solch eine Hysterie hatte niemand erwartet. "Für 1983 hatte man gehofft, vielleicht 50.000 Uhren verkaufen zu können", erinnert sich Uhren-Ingenieur Elmar Mock. "Es wurden mehr als 500.000. In den ersten fünf bis zehn Jahren sollten fünf Millionen Uhren verkauft werden, worüber sich Kenner totgelacht haben, weil sie so eine Zahl für völlig unmöglich hielten. Bis heute sind es etwa 400 Millionen geworden." Swatch führte die Schweizer Uhrenindustrie tatsächlich im Alleingang aus ihrer tiefsten Krise.
Anfangs hatte es jedoch viel Widerstand gegen die geplante Revolution mit den billigen, elektronischen Zeitmessern gegeben. Einem Land, das jahrzehntelang den Bau seiner weltberühmten, mechanischen Präzisionsuhrwerke perfektioniert hatte, erschien die billige Plastikuhr wie ein kultureller Untergang. "Wir haben die ganze Belegschaft gegen uns gehabt", erinnert sich Mock an die Zeit, als er an dem Ur-Modell der Swatch tüftelte. "Das Gehäuse aus Kunststoff zusammenzuschweißen, so dass es später nicht mehr repariert werden konnte, war ein Tabubruch." Schweizer Uhrmacher weigerten sich anfangs, so ein Wegwerfprodukt überhaupt in ihren Läden zu vertreiben.
Fast zwei Jahre hatten Mock und sein Kollege Müller nach Wegen gesucht, die Produktion billiger zu machen, ohne dass die Präzision verlorenging. Sie reduzierten die Anzahl der Bauteile um mehr als die Hälfte auf nur noch 51. Sie nieteten das elektronische Modul direkt in den Schalenboden, womit die komplizierte Montage des Uhrwerks in das Gehäuse entfiel. Und sie planten die Serienproduktion auf vollautomatischen Fertigungsstraßen. Damit sollte es später gelingen, die Kosten der Swatch auf etwa fünf Franken pro Uhr zu drücken. Verkauft wurde sie für das Zehnfache.
700 Franken für einen Welterfolg
Zum Welterfolg wurde die Swatch aber nur dadurch, dass das eingesparte Geld konsequent in Marketing und Anzeigen investiert wurde. "Vulgaris Popularis" und "Kaliber 500" hatten Mock und Müller die ersten Prototypen noch wenig elegant getauft. Doch dann hatte die Firmenleitung Marketing-Experten ins Boot geholt - die unter anderem das Kunstwort "Swatch" schufen - als Zusammensetzung von "Swiss Watch". Ein genialer Schachzug, klang er doch gleichermaßen modern und umgab zugleich die Plastikuhren mit der altehrwürdigen Aura Schweizer Tradition.
Und dann diese ungewohnt bunten Farben! Mock fand sie anfangs allerdings gar nicht gut, gesteht er heute lachend. "Wir haben damals hart um jeden Rappen gekämpft, um den Preis zu reduzieren. Und dann kamen diese Marketing-Leute mit ihren bunten Modellen, die alles wieder teurer machten." Doch je schriller sich Swatch ab 1983 gab, desto erfolgreicher liefen die Verkäufe. Obwohl der Boom 30 Jahre später längst abgeebbt ist, gibt es immer noch eingefleischte Swatch-Jünger, die bereit sind, für seltene Modelle vierstellige Euro-Summen hinzulegen.
Auch Elmar Mock trägt noch heute die einstige Kult-Uhr, obwohl der Ingenieur für seine Arbeit an der Ur-Swatch 1983 gerade einmal mit einer mageren Zusatzprämie von 700 Franken abgespeist wurde. Hat ihn das geärgert? "Ich musste ein wenig darüber lächeln und habe gedacht, dass die Überstunden damit recht günstig abgezahlt wurden", sagt er. Und fügt mit Schweizer Diplomatie hinzu: "Das war schon verständlich. Die Firma steckte damals noch in der Krise. Es gab für niemanden ein 13. Gehalt oder einen Bonus."
Drei Jahre später verließ er das Unternehmen und gründete seine eigene Innovationsfirma Creaholic, die inzwischen 26 Mitarbeiter zählt. Bereut hat er den Schritt nicht. Er habe gespürt, dass der umwerfende Erfolg die Spielräume für Kreativität schnell wieder zugestellt habe. Wer etwas ändern wollte, habe Anträge stellen müssen - und das war bei ihm ja schon einmal fast schiefgegangen.